Mein Lieblingsmäusebussard ist der mehlweiß gescheckte, der sich am Ortausgang Richtung Gärtnerei herumtreibt und oft auf der Laterne neben der Bushaltestelle hockt, von wo aus er die Kreisstraße und das Rübenfeld bis hin zum Rand des Wäldchens im Auge hat. Von meinem Fenster aus sehe ich täglich die Gabelweihen gaukeln. Im Frühjahr Kiebitze und Gänse; auch viele Störche, die sich in diesem Jahr allerdings während der trockenen Wochen weit von ihren Dorfnestern entfernt haben, vielleicht eher zum Deister hin, da gab’s manchmal Regen. Die Krähen gehen regelmäßig spazieren. Wenn mein Fahrrad über den Feldweg rumpelt, scheucht es die eine oder andere Wolke von Staren auf, die dann unter Gequietsche und brummendem Flügelschlagen von diesem Knick zum nächsten weiter wandert, und ich stehe drin wie in einer dunklen Schneekugel. Auch aus den Blühstreifen an den Feldrändern oder aus den dichten Büscheln von Karden und Kratzdisteln, die, vom Vieh gemieden, wie Inseln auf den Weiden stehen bleiben, schießen Singvögel in rauen Mengen auf. Kohlmeisen. Mal ein Rotkehlchen, da die Rohrspatzen. Ich freue mich über so was, es macht mich heimlich glücklich. Goldammern. Im Grunde bin ich ein sehr leicht zu begeisternder Mensch. Stieglitze! Die Papageien der Feldmark!
Naturverbundenheit ist ein unschuldiges Vergnügen. Sollte man meinen.
Draußen bin ich ein seliger Mensch. Vor allem hier, wo ich allein sein darf, manchmal kilometerweit. Es war schön, an der Ostsee zu leben, wundervoll, nur unter den Touristenmassen selbst noch einen Fuß an den Strand zu kriegen, war nicht immer ganz leicht, schön oder wundervoll. Die Lüneburger Heide habe ich auch sehr geliebt – das blühende Heidekraut, die Kiefern und Wachholder, ach! Und Busse voller Reisegruppen. Über städtische Parks brauchen wir gar nicht erst zu reden, nein. Hier im Nirgendwo aber begegnen mir an einem freien Vormittag ein, zwei späte Gassigänger am Rand der Wiesen, wenn überhaupt, und danach niemand mehr.
Mein rotes Fahrrad ist ein Fossil, gekauft von meinem Konfirmationsgeld, Mitte Neunziger. Bei jedem Umzug mitgekommen, immer bloß von Keller zu Keller, in keiner Stadt mochte ich Fahrrad fahren. Hier trottelt es nun über dieselben Wege wie früher, wo ich unverändert jede Kuhbrücke, jeden größeren Baum kenne; fällt ein alter Baumriese, wie zuletzt die Silberweide beim Seegraben oder Wilkenings Kastanie, heule ich hemmungslos. In den Ortschaften gibt es längst weniger Staub und Kraut, viel mehr asphaltierte Flächen: verbreiterte Straßen, Parkplätze. Weit und breit keine streunenden Hunde mehr und nur noch selten freilaufende Hühner. Verlorene Häuser, vergessene Scheunen, Schutthalden, Brachflächen: alles weg. Viel weniger Milchbauern. Viel mehr Wohn-Bebauung, sehr sauber und penibel. Kaum was verändert hat sich derweil an den Feldwegen, Bachläufen, Gräben, Pappel-Reihen, Hasel-und-Schlehen-Knicks, Erlen-Gruppen, Weißdorn-Dickichten.
Falls ich mich dazu hinreißen lassen sollte, laut auszusprechen, dass ich den Geruch der Luft zwischen Kanal und Kaliberg, worin sich Lössboden, Bachwasser, Röhricht, Holz und Kuhstall mischen, unter allen anderen erkennen würde und am liebsten habe, geriete ich direkt in kritische Gefilde. Zu nah dran an den zugezogenen Neu-Spießern mit ihrem Landlust-Abo und der jahreszeitlichen Deko samt SUV vor der Haustür, die sich zwischen FDP und AfD nicht entscheiden können. Heikel dicht dran am Bekenntnis zur „Heimatliebe“, dem Schlachtruf der alternden CDU-Recken – und der AfD-Trommler. Die CDU, die sich in der Region traditionell als Bauernpartei begreift, hat in diesem Landtagswahlkampf ihre Plakate in AfD-Blau gestaltet und wirbt ausführlich mit dem Versprechen, gegen kriminelle Familienclans vorzugehen. Die AfD kolportiert unermüdlich das Bild vom Ländlichen als Hort der normalen Leute – in Abgrenzung zum Urbanen als „links-grüner Wohlfühlzone“. Die auf dem Lande in Wirklichkeit genauso präsenten Grünen und Roten verwenden dort, wo ab Mitte rechts von „Heimat“ gesprochen wird, mühselig Einzelbegriffe wie „Umwelt“, „heimische Wirtschaft“, „unsere Schulen“ usw. Das ist gut, weil sachlicher, und das ist schlecht, weil weniger schmissig als so ein alles vereinender, emotionalisierender Kampfbegriff.
Nicht erst seit Beginn der Pandemiejahre treibt es massenhaft Leute durch Feld, Wald und Flur: Man sucht das Idyll. Die Produktwelt posaunt mir immer lauter werdend ins Gesicht, sie sei herbal, organic, green, local usw. Die grafische Flut an zierlichen Blümelein, Kräuterlein, Vögelein usw., zu finden auf Trinkflaschen, Waschmittel, Tee, Naschkram, Notizblöcken, Rucksäcken, Shirts, Shampoo, Hygieneartikeln usw. usw. usw., ebbt nicht ab. Wenn ich auf Stadt-Besuch bin, höre ich viel über Natürlichkeit, alle machen Urban Gardening und wollen die Wölfe zurück. Die perversen Mietspiegel in Ballungsräumen lassen die Leute wieder häufiger in die ländlicheren Räume gehen.
Ich habe noch kein Ortseingangsschild gesehen, auf dem „Provinz“ steht, auch keine Landkarte, die amtlich ausweist, wo „das Land“ zu finden ist, oder „die Idylle“, „die Natur“, „die Heimat“. Alles sehr schwammig, sehr zerrfähig. Projektionsvokabular. Kampfgebiet um Deutungshoheiten.
„Provinz“ ist keine Ortsangabe, sondern ein Prädikat für Rückständigkeit, rechtslastige Gesinnung, nitratbelastete Böden und Gewässer, Ödnis. „Das Land“ ist derweil der Renner für Romantisierungen: Wo kann der Mensch noch so richtig zupacken? Wo wachsen unsere Kinder gesund und fröhlich auf? Ah, auf dem Lande sind wir alle wetterfest und können noch echten Kuchen backen, wir essen den ganzen Tag Gemüse aus eigenem Garten, jeder hilft hier jedem und nie wird was geklaut! Nicht wahr?
Lesen wir hier alle fleißig unseren Winnetou? Worauf würden Sie tippen?
Unter „Land“, „Natur“ und „Heimat“ fällt mir schlicht mein Herkunftsort ein, wo ich ein halbes Leben später wieder gelandet bin, nachdem mir irgendwann das Stadtleben zu teuer und meine verdammte Ruhe heilig wurden. Was ich hier suche und finde – peinlich, es ist so kitschig – ist Trost.
Im Gespräch mit einer Freundin über deren Mutter, die sich von Kind an fieberhaft für Pflanzen begeistert hat und jedes Kräutchen am Wegrand benennen kann, rutschte mir völlig arglos, weil ernst gemeint, die Frage heraus: „Hatte deine Mutter als Kind auch keine Freunde?“ (Ich bin vollkommen unfähig zu Bosheiten, aber leider auch zu allzu feinfühligen, umschweifigen Fragestellungen.) Ihr gefährlicher Blick ließ mich hektisch nachlegen: „Ich meinte: So wie ich!“ In der Schule machte mir das mitunter zu schaffen, aber sobald ich draußen war, war’s gut, ich hatte so viel Gewächs um mich, vertraute Bäume und Sträucher, vertraute und neue Stauden, Wiesenblüher, Gräser, alle mit ihren jeweiligen Eigenschaften und Eigenwillen – Persönlichkeiten, wie ich fand. Gesellschaft. Ich hatte meinen Platz darin. Alles Einsame findet seinen Platz darin.
Man erkennt nicht gleich einen Acker-Gauchheil, bloß weil man die Grünen wählt. Ob der CDU-Landtagsabgeordnete den Unterschied zwischen Weiß- und Schwarzdorn erklären kann, ist fraglich. Wie viele Heimatschreier der AfD die unterschiedlichen Arten unserer heimischen Eiche benennen können, ebenfalls. Wie auch immer „das Land“ vereinnahmt wird, es hat meist wenig mit mir zu tun. All die Pflanzen und all das Getier hier tun mir gut, sie schenken mir Zuflucht und ich liebe sie sehr, ihnen ist scheißegal, wer wir sind, niemand beeindruckt sie, Aussehen, Beruf, Bildungsgrad, alles wurscht, Sie brauchen denen auch nicht mit „Heimat“ zu kommen, sie SIND einfach und man darf mit-sein, solange man nicht stört.