Sedimental

Zuletzt nach einer Geburtstagsfeier in Hamburg durch unser altes Viertel gefahren, wo lange erst die Wohnung der Freunde der ständige Wochenendtreffpunkt zum Feiern und Katerfrühstücken für uns Verstreute war, später dann eine Wohnung zwei Straßen weiter das Familienzuhause wurde und die Spielplätze zwischen den Blocks zum Gemeinschaftsraum für uns Jungeltern allesamt.

Die ehrlich interessierte Frage, ob ich Heimweh danach hätte, wedele ich weg wie etwas Lästiges, sie IST mir lästig, sie stresst mich, zehn Jahre lang keine Zeit gehabt für so was: Heimweh, was soll ich jetzt damit anfangen, jedes Heim aus zehn Jahren, was käme mir da alles hoch, nein danke. Ich schlucke ungnädig, mein Mann versteht und schweigt brav.

Stilles Requiem für einen wilden Köter, der nun schon ein Kinderleben lang friedwillig ist.

„Freddy der Frosch hat riesige Augen und ist sonst dick und klein“ (Axel Scheffler), so geht das hundertmal gelesene Requiem für unsere beiden kindlosen Ichs, die völlig übergeschnappt waren, bis sie gleichzeitig abgedankt haben. (Das Buch hat diese ganze Stadt vom Buggy aus gesehen; natürlich schlummert Freddy seit ein paar Jahren im Keller, tief in einem Karton voller Babysachen.)

Spuren jener Ichs sind an der Ostsee verstreut, an der Nordsee auch, sind Staub, in Pflasterfugen großer Plätze und Flaniermeilen versteckt, von Rasen oder Wildpflanzen oder kleinstädtischen Neubaugebieten überwuchert, von Tapetenwechseln und neuem Laminat überdeckt, auf Nimmerwiedersehen. Trotzdem noch da. Wir haben Blut und Spucke in der Welt gelassen und Generationen verlorener Plastikkugelschreiber in Hannover. Mitunter Zahnsplitter. Partikel, ein paar Atome groß, meiner Wimpern und Haare (damals schneeblond gefärbt) sollten sich als Teil atmosphärischer Verschmutzung in der ein oder anderen Fassade in London und Paris niedergeschlagen haben. Ich hab noch einen Ohrring in Berlin, einen anderen in Rotterdam und einen Blusenknopf in Frankfurt/Main.

Ampel. Still streicht mir der Mann über Stirn-, Scheitel-, Schläfenbein, wie immer, ein bisschen neckisch, zugleich wie aus Sorge um eine arg dünnwandige Schneekugel.

Alle Scherben, in die ich je hineingelatscht bin, gibt es noch, irgendwo, sie schlummern in ungewisser Tiefe auf einer Deponie oder sind eingegangen in die Sedimentschichten zu Füßen der Büsche am Badesee oder im Park oder am Spielplatz und nur die Ameisen und ich wissen, dass sie alle noch da sind.

Mein Mann denkt jetzt an den grünen Schnuller mit Froschkette, der schlimm vermisst wurde und heute zehn-Jahre-tief in der Sandkastengrube schlummert – hinter der Ampel müssten wir bloß zweimal abbiegen und wären wieder da. Ich höre das an der Art, wie er schluckt, bevor er bei Grün den Gang einlegt, geradeaus weiterfährt. Und weiter.

Werbung

Heimsuchung

Ich hätte gern dieses Haus von Albert Frey in den felsigen Hügeln von Palm Springs, das Frey House II. Ein bescheidenes Architekturheiligtum. Es liegt nicht bloß in den groben, von Sonne und Wüstenwind gedörrten Felsen, vielmehr sind die Felsen bestimmende Elemente des Hauses, sogar im Inneren; Frey hat das Haus in die Umgebung gebaut wie ein Vogel sein Nest in den Baum. Nur so funktionieren ja solche Häuser: indem ihre modernistischen, geometrischen Formen die umgebende, möglichst archaische Natur hervorheben – und umgekehrt. Siehe Frank Lloyd Wrights Fallingwater, demgegenüber ich, wie Sie sich denken können, auch nicht abgeneigt wäre, nein nein.

Architektur an sich interessiert mich übrigens überhaupt nicht und Interieur noch viel weniger. Geld hab ich auch keins.

Es kommt öfters vor, dass ich mein Herz an Gebäude verliere. Beim Herumstromern mit Rad habe ich in einem der Dörfer auf der südlichen Kanalseite eine alte Wassermühle entdeckt, Baujahr 1860, eine Industriemühle, erwarten Sie also kein malerisches Häuschen aus dem Märklin-Katalog. Ein norddeutscher Backstein-Komplex: funktional und wuchtig in der Form, erdig und warm in der Materialanmutung. Die Größenordnung verlangt noch nach dem Begriff Haus, nicht nach Fabrikanlage, es steht frei inmitten von Auwiesen, umgeben von Erlen, Pappeln, Knicks, Wasser- und Wind-Rauschen. Kein Kleinod allerdings: die Wetterseite alterslückenhaft mit Eternitplatten verschalt, Senkungsrisse, funktionslose Stromabnehmer und Antennen spricken da und dort hervor, Ladeklappen morschen vor sich hin, die bloße Betrachtung löst das sichere Empfinden von Zugluft, Staub und Kellerfeuchte aus. Eine Liebe auf den ersten Blick. Das Radgehäuse, großes Gestänge in resedagrüner Rostschutzlackierung, algengrün patinierter Beton, in dessen Spalten Moose und Mauerpfeffer wuchern, die Romantik verwahrloster Industrie, das Mühlenwehr, worüber sich ein Brückchen wölbt, das die Landstraße trägt, ja: das Gelände natürlich, ach!, die wunderbare Gegenwart eines kleinen, brausenden Flüsschens, daneben der Mühlteich, ein ruhiger, dunkelgrüner Spiegel, von Bilderbuch-Kopfweiden gesäumt, an der Straße ein Schild: Achtung, Fischotter.

Meine erste bauliche Liebe war der einsame Hof, den Tante Elfriede in ihren langen Witwenjahren allein unter Hühnern und Katzen bewohnte. Über Jahrhunderte nie modernisiert, irgendwann eingestuft als historisches Baudenkmal – als es unbewohnbar wurde, war deswegen eine Sanierung unbezahlbar und der Einsturz die Folge. In Freilichtmuseen kann ich mich ein Stück weit dorthin zurückversetzen, indem ich die großen, dunklen Dielen anderer Hallenhäuser mit dieser sehr eigenen Raumluft betrete: gestampfte Erde, Lehmschlag, Stroh, Geräuchertes, Tierisches. Wahre Höhlen, weit abseits von Stadt und Gegenwart.

Mit Abseitigkeit kriegt man mich immer, wie Sie als treue Lesende längst wissen.

Was Sie auch wissen: Letztes Jahr um diese Zeit packte ich gerade die Kartons, um nach einem ernsthaften, aber natürlich hoffnungslosen Versuch, mein schrulliges Elternhaus auf eine Sanierung vorzubereiten, alles hinzuschmeißen und in den Nachbarort umzuziehen.

Seither ist irgendeine Verbindung – beinahe hätte ich gesagt: ein Bann – in meinem Hirn gebrochen, eine Ankerkette, die mich zuvor unverrückbar als Elternhaus-Beheimatete verortet hatte, trotz all meiner Jahre in Mietwohnungen. Die Heimat in mir ist hin. Endlich ist sie das. Wenn meine Mutter einmal nicht mehr kann oder nicht mehr ist, kann ich das Haus, ihr und unser Haus, dieses Familienwesen, ohne größeren Schmerz abreißen.

Gleichzeitig ist eine Fehlstelle entstanden. Identität kann man nicht mieten. Aber wo etwas schmerzlos wird, also tot ist, füllt Wildwuchs die Lücke.

Wie gesagt, Baukunde an sich lässt mich kalt. Die Häuser, die sich mir vor Augen drängen, wann immer ich auch nur knöcheltief in Versenkung gerate – während ich Kartoffeln schäle, Hemden bügele, eine Kreisstraße herunter eiere – sind rein ideeller Natur, emotionaler Wildwuchs, eins abgelegener, unbewohnbarer, unverfügbarer als das andere, und für keines von ihnen muss ich auch nur einen einzigen Termin mit der Bank vereinbaren. Ich hause bloß von Sehnsucht zu Sehnsucht.

Die alte Gärtnerei in der Feldmark, außer Betrieb seit Jahrzehnten, mit ihren verwunschenen Gewächshäusern: ein Ort wie aus einem von Henning Ahrens‘ weniger gefälligen Romanen übers Landleben, wo man entweder nach zwei Seiten aussteigt, oder aber sich wie Alice ins südniedersächsische Karnickelloch fallen lässt, bis ganz unten, hinab ins tolle und wütige, unterseelische Traumwandelgebiet.

Dungeness ist eine gewaltige Kiesbank im Süden Englands, die in den Ärmelkanal hineinragt; ein idealer Ort, um ein Atomkraftwerk zu bauen. Irgendwo dort steht ein schwarz geteertes, früheres Fischerhäuschen mit gelben Fenstern, mitten im Kies, mit Blick auf Kies, Kies, Kies und ein AKW. Das Häuschen namens Prospect Cottage gehörte dem Filmemacher Derek James, der ums Haus herum einen Garten anlegte, den es so nirgends sonst gibt, denn nirgendwo sonst gibt es so viel Kies – einen Garten voll Stechginster, Meerkohl, Mohn und unzähliger weiterer Ruderal- und Küstenpflanzen, voll Treibholz und rostiger Fundsachen.

Ich könnte stundenlang damit weitermachen – ich tue das oftmals. Es gibt immer irgendein Haus am Ende der Nacht.

Adventsdeko im Angesicht der Entropie

Man muss sich Mad Max als jemanden vorstellen, der in einem früheren Leben mit dem Lastenfahrrad zu Edeka fuhr und Avocados in einer vorm Küchenfenster baumelnden Makramee-Obstschale nachreifen ließ, mit Ausblick auf sanierte Altbauten; auf dem Gewürzregal, na, vielleicht eine Forellenbegonie?

Das Haus, wo wir zur Miete wohnen, mutet von außen absolut neubaulich an mit seinem dunklen Klinker und seinem Doppelstabmattenzaun, der den Vorgarten umgibt – tritt man aber durch die zugluftdichte Haustür in den Windfang hinein, steht man vor dem versteckten originalen Hauseingang aus den 1920ern, Art-Deco-Holztür mit Glasfenster und Oberlicht. Dahinter schwingt sich die originale Holztreppe mit knarzigen, kurzen Treppenstufen und zierlichem Handlauf empor. Der originale, geölte Holzboden erinnert an ein Bootsdeck. Bad, Küche, Heizung, Fenster und Wärmedämmung sind indessen nagelneu. Besonders hübsch finde ich dieses kleine Fensterchen mit dem —

Was ich sagen will: Wer dieses Haus betritt, begreift sofort, dass hier Gemütlichkeit herrscht. Ohrensessel, Bücherschrank, Kissen, Kerzen, Kitsch. Mein Interieur-Ehrgeiz hielt sich immer in Grenzen, wie mein Budget; Gemütlichkeit darf weder Arbeit noch arm machen. Diesmal hatten wir mehr Spielraum bei der Wohnungssuche und sogar für ein, zwei neue Möbel, unsere ersten Gardinen, neues Essbesteck. Einmal ein schönes Zuhause! Ich habe meine Zimmerpflanzen in großzügigen Pflanztöpfen arrangiert. Im Esszimmer steht der Buffetschrank meiner Urgroßmutter, von mir mühevoll aufgearbeitet, mit seinen Zierschnitzereien, Butzenscheiben, dazu eine Borte aus Klöppelspitze. Sie verstehen?

Mein diesjähriger Adventskranz ist ein mit Moosbeere und Zimmerazalee bepflanzter Weidenring, dazu etwas Tannengrün, Lärchenzapfen und weinrote Stabkerzen, kein Plastikschmuck.

Meine Urgroßmutter wollte nie eine Einbauküche, ihr Buffetschrank war ihr heilig, dazu Herd, Waschbecken, fertig. Sie wechselte nie mehr ihre geblümten Nachkriegstapeten und -Gardinen, in Stube, Küche, Kammer versank man in Häkelblümchen, auf dem Regalboard Blümchenbilder, Sträußchen von Plastikblümchen, Blümchen aus Draht und Perlonstrumpf, alle Kittelschürzen in Millefleur, alle Polstermöbel mit Chintz bezogen, auf der Fensterbank Pelargonien und Usambaraveilchen, überm Bett im großen, goldfarbenen Rahmen ein Reigen von blumenbekränzten Waldnymphen, die Sträuße banden.

Meine Elatior-Begonie auf der Fensterbank blüht wieder voll auf – die Blüten knospen weiß, öffnen sich dann orange und kommen vor dem dunklen, tannengrünen bis schokoladenbraunen Blattwerk sehr hübsch zur Geltung. Die einfachen Freuden! In den langen, kalten Wintern meiner Altersarmut werde ich verklärt daran zurückdenken, das kann ich Ihnen sagen!

Ich kann Ihnen nicht sagen, wann genau sich mein Zuhause in eine samtgefütterte Rettungskapsel mit Stoffgardinen, Blümchenteppich und verträumter Deko verwandelt hat. Oder weswegen. Eine zwanghaft dekorierte Wohnung ist ein Zeichen von Dekadenz, von spätkapitalistischem Sinnmangel samt Charaktermangel: Übertriebenes Stilbewusstsein zeugt von einer Potemkinschen Persönlichkeit. Und von Langeweile: Es gibt so viel Zeug, das man kaufen kann, es hört nie auf, Gott sei Dank, und was man alles hat, kann man stundenlang arrangieren und zurechtmachen und dann fotografieren und die Fotos stundenlang zurechtmachen und dann posten und … Und ich? Da ist niemand, vor dem ich angeben könnte oder wollte. Und ich leide nicht an Langeweile. Und, wissen Sie, ich bin überhaupt nicht auf Instagram.

Bei uns war keiner religiös, aber wenn ich meiner Uroma irgendein zotteliges Wiesenblumensträußchen schenkte, dann stellte sie es jedes Mal in einer hübschen Vase mitten auf den Tisch und das war ein wortloses Gebet.

Als ich mich zuletzt mit einer Mutter, die sehr in Cottagecore schwelgt, darüber unterhielt, wieso im Kindergarten gar nicht für Weihnachten gebastelt würde, meinte sie, also ehrlich, da sei sie ganz erleichtert, dieses klebige Bastelzeug müsse man ja sonst den Kindern zuliebe auch noch irgendwo zuhause aufhängen, furchtbar.

Bei uns ist keiner religiös, aber die Kobolde, die mein Kind aus Bastelton gestaltet hat, haben ihren Platz auf einem zentralen Schränkchen, sodass sie fest zum Wohnungsbild gehören, und das ist ein wortloses Gebet.

Meine Urgroßmutter hatte sich nach dem Totalen Krieg in die totale Gemütlichkeit geflüchtet, fertig. Die Extreme ihres Jahrhunderts hatten sie erledigt, nichts und niemand konnten dieses Jahrhundert je wieder heile machen, nur Blumen waren Trost. Ich dagegen hatte den Kalten Krieg, FCKW und die D-Mark verschwinden sehen und war fest überzeugt, wir würden morgen das Ozonloch und AIDS heilen. Übermorgen Weltfrieden, Amen. Ich zog direkt nach dem Abi in meine erste unwohnliche Bruchbude aus einer langen Reihe unwohnlicher Bruchbuden und fühlte mich prima.

Danach habe ich die Science Fiction sterben sehen, denn die Realität hat sie längst überstiegen. Und den Sozialstaat, denn nach dem Kalten Krieg und der Radikal-Globalisierung musste der Kapitalismus sich nicht mehr mit teuren Wohlfahrtsversprechungen den Menschen schmackhaft machen, er hatte gewonnen, jetzt lebt er sich aus. Social Media, Terror, Pandemie, Finanzkrise, Wohnungskrise, Demokratiekrise, Klimakrise – das brauche ich Ihnen alles gar nicht sagen, Sie wissen ja, Sie wissen doch, genau wie ich. Übermorgen Weltuntergang, Amen. Ich pflege meine Begonien.

Landidylle mit Wahlplakatierung

Mein Lieblingsmäusebussard ist der mehlweiß gescheckte, der sich am Ortausgang Richtung Gärtnerei herumtreibt und oft auf der Laterne neben der Bushaltestelle hockt, von wo aus er die Kreisstraße und das Rübenfeld bis hin zum Rand des Wäldchens im Auge hat. Von meinem Fenster aus sehe ich täglich die Gabelweihen gaukeln. Im Frühjahr Kiebitze und Gänse; auch viele Störche, die sich in diesem Jahr allerdings während der trockenen Wochen weit von ihren Dorfnestern entfernt haben, vielleicht eher zum Deister hin, da gab’s manchmal Regen. Die Krähen gehen regelmäßig spazieren. Wenn mein Fahrrad über den Feldweg rumpelt, scheucht es die eine oder andere Wolke von Staren auf, die dann unter Gequietsche und brummendem Flügelschlagen von diesem Knick zum nächsten weiter wandert, und ich stehe drin wie in einer dunklen Schneekugel. Auch aus den Blühstreifen an den Feldrändern oder aus den dichten Büscheln von Karden und Kratzdisteln, die, vom Vieh gemieden, wie Inseln auf den Weiden stehen bleiben, schießen Singvögel in rauen Mengen auf. Kohlmeisen. Mal ein Rotkehlchen, da die Rohrspatzen. Ich freue mich über so was, es macht mich heimlich glücklich. Goldammern. Im Grunde bin ich ein sehr leicht zu begeisternder Mensch. Stieglitze! Die Papageien der Feldmark!

Naturverbundenheit ist ein unschuldiges Vergnügen. Sollte man meinen.

Draußen bin ich ein seliger Mensch. Vor allem hier, wo ich allein sein darf, manchmal kilometerweit. Es war schön, an der Ostsee zu leben, wundervoll, nur unter den Touristenmassen selbst noch einen Fuß an den Strand zu kriegen, war nicht immer ganz leicht, schön oder wundervoll. Die Lüneburger Heide habe ich auch sehr geliebt – das blühende Heidekraut, die Kiefern und Wachholder, ach! Und Busse voller Reisegruppen. Über städtische Parks brauchen wir gar nicht erst zu reden, nein. Hier im Nirgendwo aber begegnen mir an einem freien Vormittag ein, zwei späte Gassigänger am Rand der Wiesen, wenn überhaupt, und danach niemand mehr.

Mein rotes Fahrrad ist ein Fossil, gekauft von meinem Konfirmationsgeld, Mitte Neunziger. Bei jedem Umzug mitgekommen, immer bloß von Keller zu Keller, in keiner Stadt mochte ich Fahrrad fahren. Hier trottelt es nun über dieselben Wege wie früher, wo ich unverändert jede Kuhbrücke, jeden größeren Baum kenne; fällt ein alter Baumriese, wie zuletzt die Silberweide beim Seegraben oder Wilkenings Kastanie, heule ich hemmungslos. In den Ortschaften gibt es längst weniger Staub und Kraut, viel mehr asphaltierte Flächen: verbreiterte Straßen, Parkplätze. Weit und breit keine streunenden Hunde mehr und nur noch selten freilaufende Hühner. Verlorene Häuser, vergessene Scheunen, Schutthalden, Brachflächen: alles weg. Viel weniger Milchbauern. Viel mehr Wohn-Bebauung, sehr sauber und penibel. Kaum was verändert hat sich derweil an den Feldwegen, Bachläufen, Gräben, Pappel-Reihen, Hasel-und-Schlehen-Knicks, Erlen-Gruppen, Weißdorn-Dickichten.

Falls ich mich dazu hinreißen lassen sollte, laut auszusprechen, dass ich den Geruch der Luft zwischen Kanal und Kaliberg, worin sich Lössboden, Bachwasser, Röhricht, Holz und Kuhstall mischen, unter allen anderen erkennen würde und am liebsten habe, geriete ich direkt in kritische Gefilde. Zu nah dran an den zugezogenen Neu-Spießern mit ihrem Landlust-Abo und der jahreszeitlichen Deko samt SUV vor der Haustür, die sich zwischen FDP und AfD nicht entscheiden können. Heikel dicht dran am Bekenntnis zur „Heimatliebe“, dem Schlachtruf der alternden CDU-Recken – und der AfD-Trommler. Die CDU, die sich in der Region traditionell als Bauernpartei begreift, hat in diesem Landtagswahlkampf ihre Plakate in AfD-Blau gestaltet und wirbt ausführlich mit dem Versprechen, gegen kriminelle Familienclans vorzugehen. Die AfD kolportiert unermüdlich das Bild vom Ländlichen als Hort der normalen Leute – in Abgrenzung zum Urbanen als „links-grüner Wohlfühlzone“. Die auf dem Lande in Wirklichkeit genauso präsenten Grünen und Roten verwenden dort, wo ab Mitte rechts von „Heimat“ gesprochen wird, mühselig Einzelbegriffe wie „Umwelt“, „heimische Wirtschaft“, „unsere Schulen“ usw. Das ist gut, weil sachlicher, und das ist schlecht, weil weniger schmissig als so ein alles vereinender, emotionalisierender Kampfbegriff.

Nicht erst seit Beginn der Pandemiejahre treibt es massenhaft Leute durch Feld, Wald und Flur: Man sucht das Idyll. Die Produktwelt posaunt mir immer lauter werdend ins Gesicht, sie sei herbal, organic, green, local usw. Die grafische Flut an zierlichen Blümelein, Kräuterlein, Vögelein usw., zu finden auf Trinkflaschen, Waschmittel, Tee, Naschkram, Notizblöcken, Rucksäcken, Shirts, Shampoo, Hygieneartikeln usw. usw. usw., ebbt nicht ab. Wenn ich auf Stadt-Besuch bin, höre ich viel über Natürlichkeit, alle machen Urban Gardening und wollen die Wölfe zurück. Die perversen Mietspiegel in Ballungsräumen lassen die Leute wieder häufiger in die ländlicheren Räume gehen.

Ich habe noch kein Ortseingangsschild gesehen, auf dem „Provinz“ steht, auch keine Landkarte, die amtlich ausweist, wo „das Land“ zu finden ist, oder „die Idylle“, „die Natur“, „die Heimat“. Alles sehr schwammig, sehr zerrfähig. Projektionsvokabular. Kampfgebiet um Deutungshoheiten.

„Provinz“ ist keine Ortsangabe, sondern ein Prädikat für Rückständigkeit, rechtslastige Gesinnung, nitratbelastete Böden und Gewässer, Ödnis. „Das Land“ ist derweil der Renner für Romantisierungen: Wo kann der Mensch noch so richtig zupacken? Wo wachsen unsere Kinder gesund und fröhlich auf? Ah, auf dem Lande sind wir alle wetterfest und können noch echten Kuchen backen, wir essen den ganzen Tag Gemüse aus eigenem Garten, jeder hilft hier jedem und nie wird was geklaut! Nicht wahr?

Lesen wir hier alle fleißig unseren Winnetou? Worauf würden Sie tippen?

Unter „Land“, „Natur“ und „Heimat“ fällt mir schlicht mein Herkunftsort ein, wo ich ein halbes Leben später wieder gelandet bin, nachdem mir irgendwann das Stadtleben zu teuer und meine verdammte Ruhe heilig wurden. Was ich hier suche und finde – peinlich, es ist so kitschig – ist Trost.

Im Gespräch mit einer Freundin über deren Mutter, die sich von Kind an fieberhaft für Pflanzen begeistert hat und jedes Kräutchen am Wegrand benennen kann, rutschte mir völlig arglos, weil ernst gemeint, die Frage heraus: „Hatte deine Mutter als Kind auch keine Freunde?“ (Ich bin vollkommen unfähig zu Bosheiten, aber leider auch zu allzu feinfühligen, umschweifigen Fragestellungen.) Ihr gefährlicher Blick ließ mich hektisch nachlegen: „Ich meinte: So wie ich!“ In der Schule machte mir das mitunter zu schaffen, aber sobald ich draußen war, war’s gut, ich hatte so viel Gewächs um mich, vertraute Bäume und Sträucher, vertraute und neue Stauden, Wiesenblüher, Gräser, alle mit ihren jeweiligen Eigenschaften und Eigenwillen – Persönlichkeiten, wie ich fand. Gesellschaft. Ich hatte meinen Platz darin. Alles Einsame findet seinen Platz darin.

Man erkennt nicht gleich einen Acker-Gauchheil, bloß weil man die Grünen wählt. Ob der CDU-Landtagsabgeordnete den Unterschied zwischen Weiß- und Schwarzdorn erklären kann, ist fraglich. Wie viele Heimatschreier der AfD die unterschiedlichen Arten unserer heimischen Eiche benennen können, ebenfalls. Wie auch immer „das Land“ vereinnahmt wird, es hat meist wenig mit mir zu tun. All die Pflanzen und all das Getier hier tun mir gut, sie schenken mir Zuflucht und ich liebe sie sehr, ihnen ist scheißegal, wer wir sind, niemand beeindruckt sie, Aussehen, Beruf, Bildungsgrad, alles wurscht, Sie brauchen denen auch nicht mit „Heimat“ zu kommen, sie SIND einfach und man darf mit-sein, solange man nicht stört.

Vereinsamungslimbo

Am Anfang von Matrix sahen wir Keanu Reeves in so einem Office Cubicle hocken; mit seinem farblosen Anzug und seinem farblosen Gesicht verschmolz er vollständig mit der farblosen Bürolandschaft. Wir waren 17, glotzten pausenlos Musikvideos und Fernsehserien und gingen oft ins Kino, und darum war uns der ständig vorgeführte Cubicle ein so geläufiges Bild, absolut, ja, wir hatten es kapiert: Die würfelförmigen Waben, jede mit einem gesichtslosen Menschen besetzt, der irgendeine herzzerreißend stumpfe Arbeit zu verrichten hatte, waren der internationale Inbegriff der anonymen, sterilen, depressiven Arbeitswelt der Postmoderne.

Wir hatten es kapiert und bekamen es trotzdem täglich weiter vorgekaut und um die Ohren geschmiert, von unseren versoffenen Lieblings-Rockstars, die über ihre Lebensläufe faselten, es sei halt alles besser, als in einem Scheißgroßraumbüro zu enden, von Zeichentrickfiguren, auch von unseren Lehrerinnen und Lehrern, diesen Spät-68ern, die es nicht lassen konnten, mal in pastoralem, mal in lästerlustigem Ton über das Grauen zu referieren, das uns nach dem Schulabschluss im Berufsleben erwarte, falls wir nicht alle ein aufregendes Studium anfingen, um direkt die Welt zu verändern (fast hätte man denken können: so wie sie, damals).

Wir hatten keine Ahnung vom echten Berufsleben oder vom Weltverändern oder irgendwas und wussten trotzdem alles besser. Wir waren gehässige Provinz-Schlauberger und Bürojobs waren was für Idioten, nichts für uns. Wir alle schauten TV-Total und quatschten am nächsten Tag über nichts anderes; wir ließen uns jedes Wochenende volllaufen und benahmen uns wie marodierende Dreijährige; wir kauften Dietrich Schwanitz‘ „Bildung“, um vom hohen Ross dieser Schwarte herab unseren Eltern auf den Kopf spucken zu können. Was ich als meinen einsamen Rebellenkampf erachtete, sah so aus: Ich trug niemals Markenklamotten und war entsprechend geächtet, außerdem las ich Bücher und hörte CDs, die sonst keinen interessierten – einen Tusch, bitte! Ein Mitschüler, zwei Jahrgänge über uns, der gewohnheitsmäßig gemobbt worden war, nahm sich das Leben, indem er sich mit Benzin übergoss und anzündete, was wir so schnell es irgendwie ging verdrängten.

Später habe ich mich einmal dazu aufgerafft, ein Klassentreffen zu besuchen. So, wie ich in Sachen Mutter allerlei Dinge klären wollte, solange sie lebt, wollte ich noch allerlei andere wurmende Dinge für mich klären – warum also nicht meine alte Schule besuchen, um zu erforschen, wie furchtbar es damals wirklich war? Wir wirklich waren? Und sind? Es dürfte keine große Überraschung sein, dass mir alles halb so wild erschien, kaum dass ich als Erwachsene in diesem Klassenraum saß, mit diesen anderen Erwachsenen. Irritierend klein fand ich alles, und diesen Eindruck sehr heilsam: Was mir lange dramatisch vorgekommen war, schrumpfte auf einen Schlag auch in seiner Bedeutung auf Zwergenschiss-Maßstab. Die meisten von uns arbeiten heute auf die eine oder andere Art an einem Schreibtisch. Manche tun auch Interessantes; keiner verändert die Welt. Wir sind alle freundlicher geworden; damals hatte man arschcool zu sein, und heute ist man eben total locker und ungezwungen und natürlich. Diese und jener arbeiten in solchen Agenturen, wo man im Grunde nicht anders funktioniert als ein Thomas Anderson an seinem Cubicle-Arbeitsplatz; mit ihrem individuellen Look verschmelzen sie sicher vollkommen mit der individuellen Bürolandschaft, die aber ein Working Space ist, wo man ab und zu in die MeetingBox oder in die MuteBox wechselt, die übrigens gläsern, also voll kontrollblickoffen sind, Entschuldigung: lichtoffen. Und nach der Arbeit bedienen wir alle die digitalen Plattformen unserer Wahl, so aus Spaß, nur für ein paar Minuten hier und da, nicht wahr?, während wir unser aufregendes Leben leben.

Was war, bevor die Autostraßen waren?

Landschaft, Landschaft. Vor Auto und Asphalt waren Wald und Heide und Aue und Moor. Kranke Kinder brachte man huckepack oder im Karren zum Doktor, den Feldweg runter, über die Kutschpiste, den Hellweg entlang, über Stock und Stein und, mit viel Glück, schneller als sie wegsterben konnten. Wie einsam war es vor den Kreisstraßen? Wie still war es vor den Bundestraßen, Autobahnen? Wie dunkel war’s vor Ein- und Ausfallstraßen, wo die Laternen blühen und die Scheinwerferlichter der Pendlerströme fließen? Alte Landkarten sind bloß geädert von Wasser, dazu ein paar Post- und Handels- und Pilger- und Römerstraßen, ansonsten Fläche und Siedlung und Stadt mit Grenzlinien wie Zellwände. Offene Landschaft, gesprenkelt mit Ortschaft, aber nirgendwo Geflecht. Wie im Himmel, so auf Erden.

Ich strenge mich an, aber es klappt nicht, mir die Welt vor dem Straßennetz auszudenken. Ich müsste mich dabei nur 100, 150 Jahre zurückfantasieren, mehr nicht, Landschaftsgemälde des 19. Jahrhunderts sichten, bloß die schmalen Fetzen von Wildnis, die ich kenne, mir als groß und an einem Stück vorstellen – zu groß, es geht nicht. Die Moderne hat so gründlich ihre Straßen kreuz und quer durch die Landschaften gebaut, bis sie Straßenschaften wurden. Die Moderne hat so gründlich ihre Straßen gebaut, dass sie bis in meinen Kopf hineingeteert sind. Was für ein Bauwerk! Allgegenwärtig, maßlos! Unsere Pyramiden sind die Autobahnen, unser größtes zusammenhängendes Weltkulturerbe ist ein Netz von gewalzten Bändern, bestehend aus Megatonnen von Bitumen und Asphalt, die über Boden, Brücken, Berge laufen. Und all die laufenden Kilometer sind nur das und sonst nichts: laufende Kilometer. Kein eigener Ort, nur ein toter, feindlicher und alles durchschneidender Unort.

Wie gesagt strenge ich mich an, aber es kommt wenig Begreifen dabei heraus. Erst baute man Dörfer und Wälle und Häfen, solche Dinge, und dann irgendwann Alpträume. Erst begann der Mensch, die Welt dreckig zu machen, dann kam das Auto und machte sie besser, sauberer, moderner, ordentlicher, und so ging man eine Ehe mit dem Auto ein. Mensch und Auto wurden so sehr eins, dass man überzeugt war, indem man die Welt ganz und gar zum Wohle des Autos umbaute, täte man das alleinig zum Wohle des Menschen. Ach, diese Ehe brachte den glorreichen Rettungswagen hervor, der zahllose Kinder erreicht, bevor sie wegsterben! Amen. Und genauso den LKW-Unfall. Sie brachte uns die Erschließung der Welt, aber ja doch! Und ihre Verheizung.

Ich strenge mich an und kriege doch keinen Begriff davon zustande, was vor den Autostraßen war. Es war einmal – was war einmal? Und das ist ja nicht alles: Da wäre noch was, das viel vertrackter, deutlich vertrackter ist, kein Hirn, das hier nicht das Knistern kriegt, wissen Sie? Ich meine: Was WÄRE einmal, ich meine, NACH den Autostraßen?

Weltunbehagen, stapelbar

Ich vermisse es, zu zeichnen. Collagen zu machen – Tisch und Fußboden voll bunter Schnipsel, wuchernde Schnipsel, Blätter über Blätter, mein Garten aus Altpapier. Mit Acrylfarbe herumzuschmieren von zehn Uhr abends bis drei Uhr nachts. Ich kriege das nicht mehr hin.

Klar ist die Welt dran schuld, wer sonst! Nichts ist mehr begreiflich, alles macht Angst und Sorgen oder geht einem auf den Keks, wie soll man da malen? Und wozu auch?

Früher –

Früher einmal war die Welt so groß, dass man darin sogar allein sein konnte. Es gab einmal Brachen. Und es gab feste Bestände, feste Bestimmungen. Es gab Bereiche, die andere rein gar nichts angingen. Heute gibt’s in der Welt kein Entkommen mehr vor einander, vor Google, vor unserem Müll, vor der Unsichtbaren Hand usw. Jeder Zentimeter Erde hat einen bestimmten Grundstückswert und eine Internetbewertung, jeder Kubikzentimeter Luft, Land, Wasser hat einen messbaren Belastungswert. Jede Utopie eine Wirtschaftsutopie, jeder Krieg ein Rohstoffkrieg. Wir selbst sind nur laufende Datensätze, die Produkte konsumieren, Müll und Ausstoß produzieren, Rohstoff verbrauchen.

Aber während sich alles um Verwertungsaspekte dreht, pflegen wir gleichzeitig eine unheimliche Beziehungslosigkeit zu den Gegenständen unseres unmittelbaren Alltags – Entschuldigen Sie, aber es lässt sich nur umständlich ausdrücken, was ich sagen will, nun:

Das kaiserzeitliche Bürgertum hatte es sich in seinen Villen schon so hübsch eingerichtet, dass das Hauspersonal bloß noch die Rolle von Gespenstern erfüllte. In ein und demselben Haus bestanden zwei getrennte Welten: für die einen gab es den Eingang, die Treppe, das Schlafgemach, das Esszimmer, für die anderen gab es den Dienstboteneingang, die Personaltreppe, die Zwischendecken, die Küche und die Hauswirtschaftsräume. Die einen hatten es komfortabel, die anderen hatten kein Leben. Räumliche und soziale Trennung gingen schon immer einher. Je mehr Dreck und Gestank die Industrie verursachte, desto weiter entfernt residierten diejenigen, die gut daran verdienten. Zwischen den herrlichen Fassaden europäischer Handelsstädte und den Sklaven-Pferchen auf Kautschuk- und Zuckerrohrplantagen lagen so viele Seemeilen, dass man sich einbildete, nicht einmal der liebe Gott würde so weit gucken. Räumliche Trennung erzeugt Anonymität, das fanden wir schon immer angenehm. Als es uns in der Nachkriegszeit allmählich zu stinken begann, dass unsere Gewässer vor lauter Industrieverseuchung bloß noch Giftbecken waren, erfand man den Umweltschutz – und eröffnete neue, größere Schmutzwerke dort, wo sie asiatische oder südamerikanische Flüsse vergiften, aber halt nicht mehr die Elbe. Dass wir Billigklamotten lieben und uns gleichzeitig nicht drum scheren, wie und wo und von wem diese unvorstellbaren Massen an Textilien produziert werden, muss man keinem mehr erklären. Weltweit stellen irgendwelche anonymen Gespenster die Dinge unseres Alltags her, all diese Lebensmittel, Chemie, Technik, Baustoffe.

Fragen sich die Menschen Malaysias vielleicht manchmal, was für seltsame Gespenster es sind, die im Westen so viel Palmöl benötigen, dass alle Plantagen zusammengenommen die Größe eines eigenen EU-Staats hätten?

Mitunter scheint der Umstand, dass wir von so vielen Produkten und Produktionsprozessen ganz entfremdet sind, eine Art von Entzugsschmerz zu verursachen: Was sonst inspiriert wohl unsere ständig neuen Crafting Trends? Warum sonst eröffnen Jura-Studenten plötzlich eigene Mini-Brauereien, fangen Telefonistinnen an, privat Ziegenkäse herzustellen, wozu bastelt man sich eine Wohnlandschaft aus Europaletten oder versucht, Tischdeckchen aus mühsam gewonnenen Brennnesselfasern zu weben?

Ich selber verstehe nicht nur nicht, wie ein Smartphone im Inneren funktioniert, ich kann außerdem keine Bluse nähen, habe noch nie einen Stuhl getischlert, kann keinen Tesafilm herstellen, weiß nicht, wie viele Ähren Hartweizen man braucht, um eine Tüte Nudeln zu produzieren, habe keine Ahnung, wie man einen funktionierenden Backofen baut, kenne keine einzige Methode und Zutat, um Blutdrucktabletten zu machen. Usw. Alleine im Wald überleben würde ich übrigens auch nicht.

Falls Sie mir bis hierhin gefolgt sind – ich muss jetzt abbrechen, es liegt ein Stapel Papier neben mir, und meine Hand hat überraschend angefangen, Skizzen zu kritzeln: Es handelt sich, glaube ich, um kleine Geräte, Maschinen, ja, und je weiter ich an ihnen herumzeichne, desto deutlicher wird mir, dass sie alle eine spezifische Scheinfunktion erfüllen, sodass man hierbei offenbar von Lifestyle-Produkten sprechen muss. Eine Maschine hat ein ganz schnittiges, futuristisches Design und spuckt alle dreißig Sekunden eine erdbeergroße Glitzerkugel aus, die sich, während sie durch die Luft segelt, auflöst – Amazon bietet Nachfüllpacks in den Größen S bis XL an. Es gibt Klötzchen in organischer Formgebung, die wunderbare, konfigurierbare Raumdüfte verströmen, welche zugleich psychotherapeutisch auf Ihr Haustier wirken, mit LED-Beleuchtung in 64 verschiedenen Farben, stapelbar zu einer individuellen, bereichernden Wohnskulptur! Ein anderes Ding in schlicht-geometrischer Linienführung wird an der Zimmerdecke montiert und energetisiert die Raumschwingungen analog zu Ihrer Herzfrequenz, wofür Sie es bloß an ihre Smart Watch koppeln müssen; es setzt außerdem die Kursbewegungen ihrer Aktienpapiere in Infraschall-Impulse um. Daneben eine handliche Apparatur, die Schaum in Stangenform fixiert, mit einer Haltbarkeit von, je nach Schaum-Sorte, 3 bis 8 Minuten.

Was ich vermisse, obwohl das gar nicht so sehr der Rede wert wäre oder ich es ungern zugebe – ein Katalog

Abenteuer Forschung mit Joachim Bublath.

Blechkämme in Herrenjeanstaschen.

CDs. CDs auf dem Fußboden, CDs auf dem Bett, CDs im Regal der Freundin, CDs auf dem Fensterbrett des Freundes, Regalwände voller CDs in Elektro- oder Plattenläden. Ihre klapprigen Plastikhüllen, in besonderen Fällen Pappschuber.

Chris Cornell.

COOP.

Cordjacken.

Daria Morgendorffer.

Discman hören im Bus.

Doktor Snuggles.

Egon Bahr.

Eintrittskarten von der Rolle.

Ellen Arnhold.

Evelyn Hamann.

Familienfeier-Geräusch. Tellerklappern, Schritte, die summende Anwesenheit der Leute, wie sie essen, gackern, schimpfen, sich freuen, hektisch sind, rauchen, trinken. Die Stimmen von Erwachsenen, wie man sie ausschließlich als Kind hören kann.

Fahrraddynamos.

Fenster mit Sturmhaken.

Festnetz-Telefonnummern.

Gymnasium. Meine Schulbücher, meine Schulbücherei, mein Mäppchen mit Stiften und Talismanen. Die einfachen Erfolge, die genügten, um spürbar in der Welt zuhause zu sein: eine 1 in Englisch, eine knappe 3 in Mathe.

Hallo Spencer.

Hanni und Nanni.

Herrn von Bödefelds Insel.

Hobbythek mit Jean Pütz.

Kinderzimmer. Ein sehr komprimiertes Reich: ein Fenster, eine Tür, Bett, Schrank, Schreibtisch, Stapel von Büchern, Haufen von Klamotten; an der Türschwelle schieden sich Außen- und Innenwelt, erkennbar am spezifischen Geruch der Luft.

Klapperautos. Rostige Fiat Pandas in Himmelblau, knallfarbene, mit Blümchen bemalte Citroën 2CV (Ente), über und über mit Aufklebern tapezierte VW Golf mit 100.000er-Tacho und zuammengewürfelten Kotflügeln.

Kölnisch Wasser.

Krone-Zigaretten.

Latzhosenhippies mit ergrautem Zauselhaar, Rundbrille, Hollandrad und Atomkraft-nein-danke-Banner am Gartenzaun.

Lavendelsäckchen.

Lexika.

Loriot.

Matrizendruck.

MTV und VH1.

Nachts fernsehen.

Nachts heimlich aus dem Fenster dachabwärts auf den Wintergarten klettern.

Nachts heimlich in die Feldmark laufen.

NOFX-Sweater.

Postkarten im Briefkasten.

Registrierkassen mit Handeingabe.

Selbstversorgergärten von Siedlungshäuschen. Erdbeeren, Gurken, Rhabarber, Radieschen, Dill, Pfefferminze, Kohlrabi, Erbsen, Bohnen, Möhren, Zwiebeln, Johannis- und Stachelbeerbüsche, gerne auch Apfel-, Birnen-, Kirschbäume, am Rande eine Reihe Rosen oder Dahlien, unbedingt Tagetes.

Space Shuttles.

Transistorradios.

Videorekorder und handbeschriftete VHS-Kassetten.

Vierfarbdruck.

Wäscheleinen.

Werkstätten von Handwerksbetrieben inmitten von Wohn- oder Einkaufsstraßen, Elektrofachgeschäfte um die Ecke, Klein-Gärtnereien in kleinen Ortschaften.

Zeichentrickfilme, CGI-frei.

Zeitschriftenläden. Magazine und Zeitungen vom Boden bis zu Decke, zu quasi jedem Thema, in verschiedensten Sprachen, Heftchen für ein paar Groschen, teure Hochglanzmagazine, Comics, Sonderhefte, Kuriositäten, „mit großem Poster im Innenteil“.

Ja ja, Bunker

Ich weiß noch, dass ich als Kind gerne in einem gewohnt hätte, ich malte mir das richtig aus, am liebsten in so einem Geschützbunker an der Küste (Atlantikwall). Hässlich, wenn Kinder solche Dinge sagen, ja ja. Laut gesagt hätte ich das selber natürlich nicht; immer, wenn ich beinahe meinen Mund aufmachte, um irgendeinen Kinderkommentar zu irgendeiner Erwachsenensache zu tätigen, lag schon die Ahnung von Unangebrachtheit dick wie Dämmwolle in der Luft. Aber, die Bunker: Erstens war ich nie gezwungen gewesen, mein Leben einem anzuvertrauen, daher mein Luxus, diese Dinger mit einer gewissen Fantasie wahrzunehmen. Zweitens ist es normal für Kinder, die Bestandteile ihrer Umgebungswelt ausgiebig zu betrachten, womit ich freilich meine: bis ins letzte Atom zu durchglotzen, und sie dabei mit einem dicken, sehr dicken Kokon von Gedanken zu umspinnen, und was für Ergebnisse das hervorbringt, richtet sich nicht danach, was Erwachsene als angebracht empfinden, sondern was die Umgebungswelt schlechterdings eben so anbietet (AUCH Bunker). Drittens war ich schon immer schrecklich vernarrt in Steine, besonders Findlinge, und ein Bunker, fand ich, ist so etwas wie ein wirklich kapitaler Findling, ein Fels, dessen Inneres man betreten kann. Betreten! Hinein gelangen in das Verschlossenste, was man sich (als Kind) denken kann! Ist es sehr kühl darin, wonach riecht es, wie klingt ein Findling von innen, sind seine Wände rau oder matt oder spiegelblank, und wird es ein bisschen glitzern, falls man ein bisschen Spucke drauf schmiert? Und in so einem Bunker? Stellt man sein Bett hinein und dazu eine Laterne – blaken dann sehr unheimliche Schatten die Wände hinauf, oder sind es warme und freundliche?

Solch unsinniges Hineinwollen ist eine spezielle Sorte Neugier. Meine umfasste insbesondere (und unter kriebelnder Sehnsucht, denn das Bedürfnis nach Zuflucht, nach Zuhause ist eine nicht nebensächliche Zutat solcher Gespinste) Scheunen, Schränke und Truhen, Schachteln und Dosen, Flaschen, Bojen und Tonnen, Tannenbaumkugeln, Gewächshäuser, Schneckenhäuser und Muscheln, Kaffeekannen, Samenkapseln, Baumlöcher, diverse Gemüsesorten, Maschinen. Später Windkraftanlagen. Wer je Bäume und Türme mochte, muss auch sie gern haben. Von meinem Wohnzimmerfenster aus schaue ich heute nach Süden auf eine Fünferreihe von Windrädern in der Ferne, die tags mit ihren Quirlbewegungen, nachts mit dem rätselhaften Morsecode ihrer rot-blinkenden Signallichter etwas Aktives ins ansonsten stille Bild einbringen. Wenn ich an den Neun Schwestern (alle Strukturen, alle Großelemente werden im Flachland automatisch zu Landmarken) nördlich des Ortsrands vorbei radle, stelle ich stets fest, dass Windräder aus der Ferne – wie verwandelt – eine völlig andere Sache sind als Windräder aus der Nähe. Manchmal halte ich bei ihnen an, mache eine Pause, sitze auf den Stufen der Industrietreppen zu ihren resedagrünen Füßen und fühle mich sehr wohl, als säße ich auf der Treppe zum Eingang meiner Wohnung, als sei das Rad mein Wohnturm, mein geflügeltes Haus, ja ja, genau hier würde ich leben: Mein Blick schweift über den Feldweg, die verkrautete Zufahrt zum runden Grasfuß um den Windturm herum, ich stelle mir das als Garten vor, und dann die runden Wohnräume mit ihren glatten Metallwänden, und die Innenleiter, die die einzelnen Räume auf den verschiedenen Ebenen verbindet, und die kleinformatigen, rundeckigen Fensterchen wie in einem Flugzeug, und außen die Hausnummer in signalroter Lackierung wie bei einer Rakete; ganz besonders angetan hat es mir, warum auch immer, die U-Boot-Tür – links neben ihr wäre der Klingelknopf, der mehr wie ein Schaltknopf aussähe und an Kybernetik und Space-Age-Steuerungsrelais denken ließe, und darüber mein Name auf einem kurzen Streifen von selbstklebendem schwarzen Plastikband, eingeprägt mit dem Dymo-Etikettiergerät.

Seltsam, beinahe enttäuschend sogar fand ich immer, dass Computerspiele mit ihren zunehmend absorbierenden Welten keinerlei Reiz auf mich ausübten.

Ach, und kennen Sie möglicherweise die heimeligen Anziehungskräfte von Uhrkästen?

Grüngut abgeben im Angesicht der Entropie

Wertstoffhöfe sind keine Verweilorte. Sondern – Verrichtungsorte? Wie Supermärkte, Tankstellen, Zahnarztpraxen, Telekom-Shops usw.: Orte, wo man seinen Krempel herholt oder ablädt, erledigen muss oder erledigen lässt, Sie wissen schon. Ewiglich. Als ich den großen Sack Rasenschnitt aus dem Auto wuchte, kommt der Regen wie aus Gießkannen runter. (Es ist nicht mal mein Rasenschnitt, den ich hier ständig wegfahre; ich bin eine gute Tochter.) Letztes Mal wehten mir bockige Böen Grasklumpen um die Ohren. Jedes Mal stinkt mein Kleinwagen nach Kompost. (Rasenflächen als Gartenkonzept: die Geschichte eines Irrtums.) Man muss immer wieder in den Supermarkt, der Lauf des Lebens, es hört nie auf, immer wieder zum Zahnarzt, immer wieder zur kommunalen Grünannahmestelle, immer wieder zu —

Ein schwarzer 3er-BMW rauscht heran, provinzieller Totem für Trivialprahlerei und Testosteron; verpflichtend wummern aus dem Innenraum laute, quabbelige, wie aquaristisch verzerrte Bässe. Der Rhythmus rollt die Nachbar-Rampe zur 10-Kubikmeter-Absetzmulde rauf – aber warten Sie mal, das ist kein Techno, nein nein, das ist —

Die BMW-Tür wird aufgerissen, der Regen versiegt augenblicklich. Eine Welle von goldenem, butterweichem Sonnenschein rollt über mich hin. 10 Kubikmeter Disco-Glanz und Gloria, himmelhoch flirren die Orgeltöne: WOOOMAN, TAKE ME IN YOUR ARMS, ROCK YOUR BABY —

Unser Körper ist bloß Biomasse, schnödes Fleisch um einen verborgenen Kern aus Paradies, ja. Wie konnte ich das nur vergessen, BMW-Mann?